zwei texte über zürich

21 Mai 2017

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Wie bereits letzte Woche angekündigt möchten Mara und ich euch unsere Texte über Zürich vorstellen. Wir haben euch in diesem Post hier erklärt, an was wir in unserem Schreibprojekt gearbeitet haben und wie es dazu gekommen ist. Wir sind gespannt auf eure Meinung!


ANAÏS
Mit einer halbstündigen Verspätung komme ich mit einem der Männer in Seebach an. Wir werden nicht gerade herzlich empfangen: Der Hausbesitzer ist alles andere als glücklich darüber, dass wir so lange auf uns haben warten lassen. Wie ich, hätte der alte mürrische Herr wohl lieber noch etwas länger geschlafen. Nach einer etwas mickrigen Hausführung wird auch mir klar, dass die drei eingeplanten Tage für die Räumung knapp eingerechnet werden. Das Haus ist riesig, und es eine Bruchbude zu nennen, wäre definitiv nicht falsch. Die Wände und Böden sind in keinem formidablen Zustand, das ganze Gebäude wirkt ziemlich heruntergekommen. Trotzdem stimmt die Atmosphäre – alles scheint seinen Platz zu haben. Ich freue mich jetzt schon, im ganzen Haus herumzustöbern und alten Geheimnissen auf die Spur zu kommen.

 Wir haben uns um 7:30 Uhr beim Arche Brockenhaus in Altstetten getroffen: Ich kann nicht genau einschätzen, was ich an diesem heutigen Tag erleben werde. Ich trage meinen Lieblingscardigan und eine bequeme Hose, die sich gut auch zum handfest Arbeiten eignen. Trotzdem fühle ich mich leicht overdressed. Ich bin pünktlich und werde bereits von Michael* erwartet. Er zeigt mir kurz das Büro und erklärt mir im Schnelldurchlauf, was wo ist und was all die Zettel an der Wand bedeuten. Es sind Offerten, die das Arche Brocki seinen Kunden macht, in unserem Fall ist es nun jene eine für eine dreitägige Hausräumung. Das Brockenhaus Arche ist eine Anlaufstelle für Angesteuerte sowie für Menschen mit psychischen Störungen oder Suchtproblemen. Die Arche bietet ihnen Arbeit, hilft den Arbeitern neue Perspektiven zu gewinnen und ihr Leben zu stabilisieren.

Im Hauptsaal des Brockis sitzen mit uns unterdessen zwei weitere Männer am Tisch, die nun zum ersten Mal hören, dass ich sie heute begleiten werde. Einer fehlt, Damir hat nach einer Partynacht am Vorabend verschlafen. Nach einer Viertelstunde ist er immer noch nicht erreichbar, und Michael macht sich mit Pablo auf, den Langschläfer zu Hause zu wecken und abzuholen. Ich ärgere mich in der Zwischenzeit darüber, dass ich nicht selber länger geschlafen habe, ich habe nämlich erfahren, dass wir uns auf den Weg nach Seebach machen. Seebach wäre von mir zu Hause aus ein Katzensprung gewesen, den langen Umweg über das Arche Brocki in Altstetten hätte ich mir sparen können.

 Als dann die anderen drei Männer mit dem verschlafenen Damir in Seebach zu uns stossen, geht die Arbeit richtig los. Sie laden mit plötzlich geballter Energie Kisten aus den Lastwagen und trennen die guten Dinge von den schlechten. Gute Dinge sind alle Gegenstände, die nicht mangelhaft sind und sich im Brockenhaus weiterverkaufen lassen. Alles was defekt oder bereits im Übermass vorhanden ist wandert in die „schlechte“ Kiste oder gleich in Abfallsäcke. Die guten Sachen sind noch nicht über den Berg: Sie müssen eine weitere Sortierphase überstehen und landen erst dann im Brockenhaus zum Verkauf. Glas und Metall werden strikt getrennt. Die Arbeit geht schnell voran und Zimmer für Zimmer wird langsam leer. Ich bin sehr fasziniert von der Sortier- und Ausmistarbeit, fühle mich richtig in meinem Element. Ich haste von Raum zu Raum und biete bereitwillig meine Hilfe an. Etwa fünf Mal weisen mich die galanten Herren darauf hin, dass ich nur die leichten Sachen tragen soll, und dass die schweren Gegenstände von ihnen übernommen werden. Sie unterschätzen meine Muskeln.

 Gegen zehn Uhr gibt es eine Kaffeepause ohne Kaffee. Den konnten sie nicht hervorzaubern. Danach füllen wir Abfallsack um Abfallsack mit verschiedenstem Gerümpel – von alten Pfannen mit wahnsinnig viel Schimmel, abgelaufenen Esswaren und vergammelten Turnschuhen sowie alten Fotos und Gläsern bis hin zu Pornos und Bierflaschen aus dem Kinderzimmer. Tatsächlich finde ich gemeinsam mit Michael verschiedenste Erotikfilme mit zugehörigem DVD-Player. Klischeehafter könnte es kaum sein; versteckte Pornos unterm Bett, Bierflaschen hinter dem Schrank und Wichsflecken auf der Matratze. Dieser niedliche, kleine Junge, der auf verschiedenen Bildern im Zimmer zu sehen ist, ist offenbar unterdessen ziemlich erwachsen geworden.

Nach den glorreichen Entdeckungen vom Vormittag essen wir unsere selber mitgebrachten Sandwichs zu Mittag. Die Gespräche drehen sich um Autos, die von den Männern mit enormen Geschwindigkeiten auf deutschen Autobahnen bewegt werden. Einige der rasenden Arbeiter mussten ihren Führerschein vorübergehend abgeben, andere haben in acht Jahren noch keine einzige Busse erhalten. Nach unserer kleinen Stärkung geht es weiter. Wir sind gut vorangekommen am Morgen. Jetzt geht es vor allem darum, die Schränke und Kommoden, die inzwischen geräumt sind, zu entsorgen. Einige werden weiterverkauft, die meisten aber zerstört. Mir wird ein riesiger Hammer in die Hand gedrückt: Ich soll doch auch einmal probieren, ein Möbel zu zerschlagen. Pablo und Michael haben ihren Spass. Ich stelle mich total ungeschickt an und kann nur mit Mühe mit diesem schweren Hammer aufs Holz einschlagen. Das sieht bestimmt witzig aus, ich hätte mich selber genauso ausgelacht.

 Der ganze Abfall muss aus dem Haus raus und in die zwei Lastwagen gefüllt werden. Anstatt alles aus dem dritten Stock das Treppenhaus herunterzutragen, legen wir drei Matratzen auf den Gehsteig und werfen alles kurzerhand aus dem Fenster. Der erste Gegenstand, den ich mich traue fallen zu lassen, ist ein kleiner schwerer Koffer. Damir merkt schnell, dass da etwas schiefläuft: ob wir diese Schreibmaschine wirklich entsorgen wollen? Nein, natürlich nicht! Das war keine Absicht und wohl ein Fehlwurf. Was für ein Spass, diese kaputtgeschlagenen Möbel auf die Strasse zu schleudern!

 Ich helfe überall mit und lade zusammen mit Pablo die beiden Lastwagen voll. In einer kurzen Pause sagt er mir, dass ich seiner Tochter unglaublich ähnlich sähe. Auf seinem Handy zeigt er mir ein Bild von ihr zusammen mit ihrer Mutter – und tatsächlich: die junge Spanierin sieht mir sehr ähnlich. Und Pablos Ex-Frau erinnert mich an meine Mutter! Als ich ihm das sage, meint er bedauernd, dass er meine Mutter nicht kenne und lacht. Nach und nach werden die beiden Lastwagen gefüllt, die Sonne glüht inzwischen richtig stark und der Frühling grüsst ein erstes Mal dieses Jahr. Einen kurzen Moment lang empfinde ich Mitleid mit meinen Schulkameraden, die jetzt in einem Klassenzimmer sitzen und keine Sonnenstrahlen abbekommen. Aber dann kommt auch schon der nächste Sack geflogen und ich werde gebraucht.

Die Lastwagen sind voll und der heutige Tag neigt sich dem Ende zu. Nun müssen wir mit dem ganzen Abfall ins Hagenholz fahren und alles, was nicht Glas oder Metall ist, im grossen Loch, wie Pablo es nennt, verschwinden lassen. Das Arche Brocki hat einen Vertrag mit der Kehrichtsverbrennung abgeschlossen, sie können ihre Ware billiger entsorgen – die Brockenstube kommt schliesslich fast jeden Tag hier vorbei. Den ganzen Abfall in dieses Loch zu werfen, macht gleich doppelt Spass. Zusammen mit Michael und Pablo versuche ich möglichst viele Fenstergläser und Spiegel zu zerstören, so, dass möglichst viele Splitter entstehen. Das alles tun wir ohne darauf zu achten, dass das wohl sieben Jahre Unglück mit sich bringen könnte. Zur Krönung des Tages werde ich nach Hause gefahren und erhalte als Dank für meine Hilfe die unversehrte Schreibmaschine, die ich ein paar Stunden zuvor versehentlich aus dem dritten Stock geworfen habe.

*Alle Namen im Text wurden geändert



MARA
Zürich. Ein verhaltenes Gefühl von Grossstadt. Pure Freiheit im Sommer. Nicht nur dann: ein eigener Rhythmus. Eine gewisse Ehrlichkeit liegt in den Strassen. Der Schluck eines Lebensgefühls.

Ich laufe durch diese Stadt. Gesichter und Geschichten kommen mir entgegen. Alle scheinen gezeichnet, tragen so viel Unsichtbares mit sich. Ich glaube, dass Gesichter und Geschichten tief miteinander verwoben sind. So gern ich mir diese Geschichten ausdenke, so frage ich mich doch auch immer, wie ich auf diese Menschen wirke. Merken sie, dass ich in diesem Moment kein Ziel habe, sondern einfach draussen mit ihnen eine Strasse teilen möchte und im nächsten Moment vielleicht komplett die Richtung ändere? Merken sie, wie frei ich mich bewege?

Ich habe nämlich lange gebraucht, um zu merken, wie viele Menschen sich nicht frei bewegen können. Gerade jetzt leiden gewisse Menschen unter einem sogenannten Rayonverbot. Es untersagt ihnen, den Stadtraum Zürich zu betreten oder ein gewisses kleines Gebiet zu verlassen. Das ist ein Bruchstück der Realität ‘Schweizer Willkommenskultur’. Sie besteht aus vielen leeren Phrasen und Worten, hinter welchen sich oftmals schreckliche Fakten verbergen. Während ich mich mit diesen Fakten beschäftige, mit Menschen darüber spreche und Lektüre dazu heraussuche, lerne ich nicht nur viel über das Leben unterdrückter Menschen hier, sondern auch über mein eigenes. Vor allem die so selbstverständlich wirkenden Gewohnheiten in meinem Alltag. Ich hinterfragte diese bisher nicht weiter. Fast täglich nehme ich den Tausch von einigen Geldstücken gegen ein Stück Papier namens ‘Ticket’ vor. Eigentlich bin ich es mich gewohnt, mich ohne Papier zu bewegen. Zuhause habe ich nämlich zwei Pässe - diese Seiten, einmal in leuchtend rotem, dann in blutrotem Einband eingefasst. Und die Bedeutung dieser Papierstücke ist von unermesslichen Wert, denn sie scheinen heutzutage mehr zu zählen als jede erdenkbare Tugend. Dabei sind sie bloss Untergrund für weitere leere Phrasen und Worte, die einen ebenso grossen Wert tragen.

Auch ich finde Worte wichtig. Aber nicht diese offiziellen, immer gleichen, in Dokumente gedruckten Worte. Sondern solche, die wir anderen Menschen zu eigen machen können, welchen sonst oft noch die (deutschen) Worte fehlen. Denn so können wir von ihren Geschichten erfahren, ihnen zuhören. Und so nicht nur Gesichtern Geschichten zurückgeben, sondern Menschen Identitäten. Oder wir kommen direkt in Kontakt mit Geflüchteten und sehen unglaublich viele Dinge. Geflüchtete schnappen nach Luft und suchen nach Worten. Haben Schweizer Flaggen als Handyhintergrund und Augen, die vor überschwänglicher Dankbarkeit leuchten, wenn ihnen ein winziger Hinweis zu einem bestimmten Wort gegeben wird.

Mit diesen Eindrücken fing alles an: an einem für Zürich so typisch grauen, verregneten Mittwoch im Februar 2017. Ich moderiere in der ASZ, der Autonomen Schule Zürich. Neben gratis Deutschunterricht, an dem Geflüchtete ‘teilnehmen’ können (die ASZ wehrt sich gegen autoritäre oder andere bestehende Herrschaftsstrukturen, deswegen werden diese Begriffe gewählt), kämpft sie aktiv für ‘globale Bewegungsfreiheit für alle, eine Welt ohne Grenzen’. Ich moderiere also drei Stunden lang einen Deutschunterricht und einige Geflüchtete kennen – nun - einen winzigen Teil mehr von unserer umfangreichen deutschen Sprache. Ich merke, wie sie mir die fremden Laute von den Lippen lesen und sogleich aufsaugen. Sie sind alle unheimlich wissbegierig. Da der Raum aus allen Nähten zu platzen scheint und doppelt so viele teilnehmen wollen wie eigentlich vorgesehen, geben sie sich auch mit einem Platz zwischen Tür und Angel zufrieden, teilen sich diesen sogar mit mehreren anderen Menschen. Vorurteile bleiben vor dieser Tür stehen – hier treffen verschiedenste Menschen aufeinander. Man könnte meinen, es würde so nicht funktionieren. An einem Punkt würde diese Idee der ASZ scheitern. Aber die Dinge dort haben ihren ganz eigenen Ablauf. Versuche ich ein Wort wie ‘Ellenbogen’ zu erklären, ist das noch einigermassen einfach. Sobald es aber abstrakter wird und ich zu erklären versuche, dass ‘Schlange’ sowohl ein Tier wie auch einige wartende Menschen hintereinander bezeichnet, wird es schwieriger. Aber irgendwie klappt es immer – und hat es erst einmal jemand kapiert, ruft er es in seiner Sprache aus, und wer diese und eine weitere Sprache spricht, gibt die Bedeutung weiter. Wir lernen alle miteinander. Und die ASZ hat vielleicht nicht globale Bewegungsfreiheit für alle geschaffen, aber sie schenkt uns einen Raum, in der wir eine Welt entstehen lassen. Eine Welt ohne Grenzen.

Genau so funktioniert die ASZ. Manche sind einmal in diese Welt ohne Grenzen eingetaucht und wollen zurückkehren. Und das ist unglaublich einfach, weil die ASZ uns diesen Raum zur Verfügung stellt und allmögliches Lernmaterial, damit zusammen gesprochen und ausgetauscht werden kann. Zumindest wird das versucht. Die Geflüchteten bemühen sich mit Kopf, Herz und Seele, Händen und Füssen. Genau wie ich. Wir befinden uns an diesem Ort hier, wo wir alle gleich viel bedeuten. Wir sind alle gleich, wir sind alle Menschen. Wir haben alle unterschiedliche Sachen erlebt. Sie jedoch teilen eine Erfahrung, die schrecklich war und von nun an ihr ganzes Leben bestimmen wird. ‘Auf Asyl warten ist wie schwanger sein – man wartet und wartet, und dann ist dieser Augenblick da, in welchem sich alles ändert’ sagt ein Mädchen. Mag sein, dass die ASZ für viele nur ein Warteraum ist, nachdem sie sich doch wieder in dieses System einordnen müssen, in welches uns der Staat presst. Aber sie haben einen der schönsten und pursten Orte Zürichs kennengelernt. Danach bekommen sie endlich auch ein Stück Papier. Mit viel Glück steht das Wort ‘Aufenthaltsbewilligung’ darauf, dahinter ein einzelner, lose wirkender Grossbuchstabe. N, B oder F. Oder etwas ganz anderes. Und dieses vermeintliche unscheinbare Wort soll sein, was eine vage Vorstellung der Zukunft skizziert.


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