strangeland. von tracey emin | buchbesprechung

29 Mai 2017

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Die Memoiren Tracey Emins dokumentieren das Leben einer aussergewöhnlichen Frau. Als Tochter einer Britin und eines türkisch-zypriotischen Vaters wächst sie mit ihrem Zwillingsbruder Paul in der heruntergekommenen Küstenstadt Margate auf. Nach dem Bankrott des ehemals reichen Vaters lebt die Familie getrennt und in ärmlichen Verhältnissen. Sie wird als Teenager vergewaltigt, bricht vorzeitig die Schule ab, stürzt sich in zahllose Affären. Mit ihrem Vater reist sie später in die Türkei und nach Zypern, um sich über ihre Zukunft klarer zu werden. Radikal offen und bisweilen selbstironisch erzählt sie von den existenziellen Themen einer Frau von heute: sexuelle Begierden und Männerbilder, Kinderwunsch und Abtreibung, Verwirrungen der Liebe und Abgründe der Einsamkeit Kunst ist dabei für Emin immer auch die 'Kunst des Lebens und die Kunst des Wollens'.

Es ist endlich Zeit, meine Gedanken zu Tracey Emins 'Strangeland' niederzuschreiben. Dies tat ich, wie bei manchen Büchern, die mir sehr nahegehen, zuerst schriftlich. Nun möchte ich meine Gedanken aber wieder mit euch teilen. Ich musste sie nämlich zuerst sammeln und ein wenig ordnen, bevor ich sie veröffentliche. Genau das ist das Werk der britisch-türkischen Künstlerin, 1963 geboren nicht - nicht sortiert, nicht geordnet. Überhaupt nicht gradlinig oder konventionell, in keinster Weise. Sie lebt in London und dort ist sie mir immer wieder begegnet - entweder fiel mir ihr Name ins Auge und von ihr war die Rede, sie hätte den Bau eines Hochhauses gestoppt, was ich für eine tolle Leistung halte. Vor allem aber habe ich auch ihre Kunstwerke gesehen, gar nicht bewusst - plötzlich war etwas von ihr vor mir, ein Teil von der Frau, deren Kopf und Leben ich irgendwie so gut kannte, weil sie es so authentisch und so ehrlich rüberbrachte in ihrer, zugegebenermassen etwas verwirrenden Autobiographie 'Strangeland'. Das Buch, ihre Memoiren, ist also nicht nur vom Leben, sondern vor allem auch von einer grossartigen und bewundernswerten Künstlerin geschrieben. Das merkt man an den so natürlich, so organisch wirkenden Wortketten. Unglaublich oft kippt ihr Schreiben dabei ins Surreale, was uns noch mal bewusstwerden lässt: wir lesen hier intimste Gedanken, Empfindungen und Auseinandersetzungen, die aber von einer Künstlerin stammen und deswegen zumindest in gewisser Hinsicht inszeniert sind. Wir lesen von Kindheit, von Trostlosigkeit, von den Einflüssen ihrer, und ja, irgendwie auch unserer Eltern. Von Teufelskreisen, Sinnlosigkeit und Bedeutung. Dabei wirkt das Buch gut kuratiert, in verschieden Teile eingeteilt. Motherland. Fatherland. Tracyland. Strangeland eben.
Sie wagt experimentelle Schreibspiele und wenn man das Buch einfach irgendwo aufschlägt und zu lesen beginnt, ist das oft fast schon verstörend. Aber das ist es irgendwie auch, wenn man von vorne bis hinten liest. Dabei regt Tracey Emin ja selbst zum rebellieren ein.
Das Buch hat etwas Brutales, zumindest etwas Gnadenloses an sich. Manchmal besteht das Ganze auf handgeschriebenen Passagen. Dann aus Listen. Es folgen tägliche, fast langweilige Aufzeichnungen. Dann ein Wortspiel mit 'MASCULINITY'. Ja, das Ganze ist ziemlich verrückt. Aber das Leben ist ja auch Verrückt. Und Tracey Emin zeigt dabei schön, was passiert, wenn wir uns von Normen und den allgemeinen Vorstellungen und Idealen der Gesellschaft lösen: ja, alles wird ein bisschen wilder. Aber auch intensiver. Und so ist das Buch auch: intensiv auf allen Ebenen.
Deswegen braucht das Buch auch ein bisschen Zeit, man muss etwas darin investieren, wie in alle guten Bücher die uns wirklich etwas zurückgeben. Es braucht Zeit, ins Strangeland zu reisen. Dabei ist es eigentlich ganz nah, ein bisschen zumindest: Strangeland ist unser tiefstes Inneres. Dort hat mich Tracey Emin zumindest berührt.

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