1000 Peitschenhiebe, weil ich sage, was ich denke | Raif Badawi

08 März 2017

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Das wird keine gewöhnliche Buchbesprechung, denn '1000 Peitschenhiebe' ist auch kein gewöhnliches Buch. Denn in diesem Buch sind die Worte, die Raif Badawi so gekonnt aneinandergereiht hat und damit sein Land sorgfältig seziert hat und auf den Grund gekommen ist, um dafür 1000 Peitschenhiebe zu bekommen. Und 10 Jahre Haftstrafe. Und eine Geldbusse. Noch dazu wurde er von seiner Familie getrennt, seine Frau Enrah und ihre beiden drei Kinder unterstützen Raid Badawi so gut es geht von Kanada aus.

Ihr habt bestimmt alle schon von ihm gehört, und sogar in unserer vergleichsweise kleinen Stadt Zürich gab es eine ziemlich beindruckend lange Zeit über alle drei Wochen eine Mahnwache an zentraler Lage, um auf das Leiden Badawis aufmerksam zu machen, um den Passanten zu zeigen, welches Schrecken abseits unserer so sicheren europäischen Grenzen liegt. Das ist den meisten natürlich bewusst, genauso wie die Brutalität, mit dem Saudi-Arabien regiert wird. Und doch lernte ich in diesem Buch viel Neues, viel Atemberaubendes über dieses Land. Tatsächlich hat mir einiges den Atem verschlagen - beispielsweise schildert er die erste Buchmesse, an welche Frauen sowie Männer, sogar gleichzeitig, zugelassen wurden. In der Gegenwart. Das ist einfach unglaublich.

Ebenso unglaublich ist, dass Raif Badawi eingesperrt wird. Was er tut ist mutig und für das Land bestimmt linksextrem, nehmen wir seine Texte hier eher für gewöhnlich auf, wenn man sie mit provokanten Texten hierzulande vergleicht. Aber für sein Land ist er eine Ausnahme, sprengt er Grenzen und hat deswegen auch eine Bestrafung 'verdient', wie Saudi-Arabien anordnete. Mich schockierte wirklich, dass seine Stellungsnahmen in den Texten gar nicht so radikal waren, wie ich sie mir vorgestellt habe. Und das relativierte nochmals ganz stark meine Vorstellung von Saudi-Arabien, neben allem, was ich nun über das Land weiss.

"Diese Streitschrift versammelt die zentralen, verbotenen Texte Badawis. Sie zeigen die Spannungen zwischen einer traditionellen Auslegung des Islam und dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben in der Gegenwart. Badawi fordert Liberalismus, Toleranz, Pluralität, Meinungsfreiheit und Menschenrechte - weil sonst die arabisch-islamische Welt verloren ist." steht hinten auf dem Buch geschrieben. Das beschreibt zwar Badawis Texte und Meinungen ganz gut, dennoch fühlte sich nicht alles beim Lesen gut an - immer wieder war ich verwirrt oder stimmte ganz einfach nicht zu, was zum Beispiel schon im Vorwort von Constatin Schreiber für Aussagen getätigt wurden. Denn wenn Raif Badawi gelobt wird, werden im gleichen Atemzug andere Denker wie ihn kritisiert, weil sie sich 'auf und davon' gemacht haben, weil sie nicht vor Ort für ihre Freiheit gekämpft haben, sondern das Land verlassen haben. Und ja, damit vielleicht egoistisch sind. Aber kann man es ihnen wirklich vorwerfen, wenn man selbst noch nie in einem Land wie Saudi-Arabien, oder nein, einfach in Saudi-Arabien selbst gelebt hat? Natürlich zeugt das von Badawis Mut und Andersartigkeit, allerdings habe ich eben auch Mühe mit solchen Äusserungen.


Das Buch oder die Texte darin sind in vier Kapitel eingeteilt,
I: Terror, Krieg und Frieden - Islam, Scharia und Politik
II: Leben und leben lassen - Liberalismus und Gesellschaft
III: 1001 Rotlichnacht - Zum Verhältnis von Männern und Frauen
VI: Kultur des Todes - Nahost-Politik und Arabischer Frühling

Im ersten Kapitel bekommen wir so bisschen mit, wie das Leben dort funktioniert, wie eng Politik und Religion miteinander verwoben, verworren sind und wie besonders die einfachen Menschen so mir nichts, dir nichts täglich von den Medien in ein völlig verschobenes Weltbild gesetzt werden und stark beeinflusst werden von all den Lügen, die sie wissentlich von sich geben. Er begegnet dem mal mit Sarkasmus, mal mit offener Schockiertheit - aber schockiert sind wir Unwissenden allemal mehr.

Das zweite Kapitel, welche sich vor allem mit Liberalismus beschäftigt, muss man wieder distanzierter betrachten. Es geht einerseits gar nicht um den hier oft wirtschaftlich konotierten Liberalismus, sondern wirklich um die politische Haltung - beides kann ich so nicht immer unterschreiben und sehe sie hier auch als 'mittiges Ding' an, für Saudi-Arabien wäre aber etwas nahe dem Liberalismus unglaublich fortschrittlich, und das begründet er auch gut.

Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, welches hier angespochen wird, ist immer sehr spezifisch. Er erklärt uns gut einige unglaublich patriarchalische Grundzüge Saudi-Arabiens und zum Beispiel unvorstellbare Eheschliessungen, die so aber sogar gesetzlich verankert sind. Es ist wirklich unglaublich, wie rückschrittlich dieser Staat ist, so oft dürfen Frauen dort nicht arbeiten.

Kapitel Vier und Abschluss des Buches plädiert eigentlich gegen seinen Titel für eine Kultur des Lebens und wünscht sich eine schönere, buntere, frühlingshaftere Zukunft für Saudi-Arabien.

Ich möchte euch das Buch wirklich ans Herzen legen - bei den Ullstein Streitschriften erschienen, ist das Buch allerdings ein Non-Profit Projekt, was bedeutet, das der Erlös oder Umsatz komplett dem Autor zugute kommt, was ich sehr unterstützenswert finde. Denn was hier geschieht, ist etwas ganz anderes, was dort geschieht. Wir können, teilweise leider, teilweise zum Glück, unsere Aufklärung nicht auf das Land dort übertragen, wir müssen sogar einem so schrecklich rückschrittlichen Land wie Saudi-Arabien die Zeit geben, um sich umzustrukturieren, sich umzuwandeln und Intellektuelle wie Raid Badawi zu gebären. Andererseits wäre die Aufklärung nämlich nicht echt und könnte in Sekundeschnelle wie ein Luftschloss zerplatzen. Das Einizige, was wir tatsächlich tun können und tun müssen, so überzeugt hinterlässt mich dieses Buch, ist, die Tatsache zu akzeptieren und Rebellen vor Ort zu unterstützen, indem wir sie lesen, indem wir sie zu verstehen versuchen, in dem wir den Kampf dort verfolgen und sein Bestes wünschen.


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