und in mir der unbesiegbare sommer | rezension

21 Oktober 2015

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Litauen, Sommer 1941: Die fünfzehnjährige Lina trägt noch ihr Nachthemd, als man sie und ihre Familie abholt. Wenig später werden sie - wie Zehntausende anderer Balten - nach Sibirien deportiert. Von einem Tag auf den anderen ist Lina konfrontiert mit unvorstellbarem menschlichen Leid und furchtbarer Gewalt. Doch Lina fängt an zu zeichnen, in den Staub, auf jedes kleinste Stück Papier, das sie finden kann. Und sie verliebt sich in Andrius. Denn egal was kommt, sie ist bereit für jeden Rest  an Lebensfreude zu kämpfen.

Und in mir der unbesiegbare Sommer von Ruta Sepetys

Genre: Contemporary • Verlag: Carlsen • Seiten: 300 Seiten • Fassung: Taschenbuch • Original: Between Shades Of Gray, Englisch • Übersetzerin: Henning Ahrens • Preis: 7,99 Euro [D]

"Ich war im Nachthemd, als man mich holte."

Ich interessiere mich selten für historische Romane, und wenn ich dann zu einem solchen greife, spielt er grundsätzlich im zweiten Weltkrieg. Ich habe schon unzählige Bücher über den Holocaust gelesen, natürlich Anne Franks Tagebuch und, ein anderer grosser Favorit von mir, 28 Tage lang von David Safier. Aber in 'und in mir der unbesiegbare Sommer' geht es um die Deportation von Litauer, Estländer und Lettländer nach Sibirien, unter Stalins Herrschaft. Wenn man Klappentext durchliest, hört sich das Buch vielleicht härter an als andere, aber man erkennt definitiv Linas Silberstreifen am Horizont, das Zeichnen und die Liebe, zwei Themen, die mich natürlich sehr beschäftigen. 

Es fängt an, wahnsinnig bedrückend, weil sofort die Aussichtslosigkeit  der Lage klar wird, und weil die Deportation so plötzlich kommt. Vorher hat sich Lina noch nie grosse Gedanken über Stalins Herrschaft gemacht, über seinen Psuedo-Kommunismus, und wenn, dann war sie sich dem Ernst der Lage nicht bewusst.

Mutter nähte nachts Schmuck in das Futter ihres Mantels ein. Ich begriff erst im Nachhinein, 
dass sie und Vater mit uns hatten fliehen wollen. Doch wir schafften es nicht. 

Aber das nicht aus dem Grund, dass Lina nicht reflektiert ist, nicht nachdenkt, denn das Gegenteil ist der Fall. Ihr werden die Gedanken, ihre Bitterkeit über die eindringenden Russen verboten, weil sie gefährlich ist. Aber schlussendlich ist es wohl egal, ob sie diese äussert oder nicht, denn zu Beginn des Buches kommen die Soldaten, und innerhalb zwanzig Minuten muss Lina, im Nachthemd, mit ihrem verängstigten Bruder und ihrer starken Mutter vor der Türe stehen, bereit, um ihr zu Hause womöglich für immer hinter sich zu lassen, ohne eine Ahnung, wo sich der Vater, Universitätsleiter aufhält, ob er überhaupt noch am Leben ist. Doch das ist nicht alles, schnell wird klar, dass das, was folgt, noch schlimmer wird, die Luft in meiner Kehle noch mehr zuschnürt. Mit vielen Menschen auf engem Raum zusammengedrückt beginnen sie also ihre Reise, aber es ist nicht das schöne Reisen, das aufregende, auf das man sich freut. Nicht nur, weil die Zieldestination unbekannt ist, sondern weil sie in einem Viehwagen ohne Licht und ausreichender Luft mit Frauen, Kindern und alten Menschen stecken, alle verängstigt sind, sich nicht kennen und sich nichts trauen. Linas Mutter dagegen ist wahnsinnig stark und liebevoll, sie kämpft für ihre Kinder, aber auch für alle anderen Menschen, und ich habe sie, wie fast alle Personen, sofort in mein Herz geschlossen. Ihre Gefühle waren so stark und zeigten sich doch vielleicht nur durchscheinend durch ihre solide wirkende Hülle, aber wie Ruta Sepetys diese Emotionen ausgedrückt hat, hat mich wahrlich fasziniert und gehört für mich zu einem der wichtigsten Details und Fähigkeiten beim Schreiben.


Die Reise dauert länger und länger, wenn sie glauben, angekommen zu sein, werden sie wieder aufgescheucht, wirklich wie Viehe behandelt und auch wieder zurück in diesen Abort von Viehwagen gesteckt, welcher jedoch neu mit 'Diebe und Huren' beschriftet wurde. 

Ich liess den Blick über die Menschen gleiten. Die Gesichter verrieten etwas über die Zukunft der jeweiligen Person. Ich sah Mut, Wut, Angst, Verwirrung. Andere hatten schon keine Hoffnung mehr. Sie hatten aufgegeben. Und ich? 
Seite 39

Ich weiss nicht, was dieses Buch zu so einer unglaublichen Erfahrung für mich  gemacht hatte. Vielleicht, weil mich Ruta Sepetys, deren zweites Buch, welches ich jedoch vor ihrem Debüt geleesen habe, schon so fasziniert und begeistert hat, so packen konnte, wie noch niemand zuvor. Aber vielleicht ist es auch nicht das, sondern Linas greifbare Hoffnung, die sie im Zeichnen und in ihrem Umgang mit den Menschen deutlich gemacht hat, und diese Hoffnung bei diesem Leid, vielleicht war das zu viel für mich. Lina ist ein solch wunderbarer Mensch, wie so ziemlich alle Personen in dem Buch, die Soldaten natürlich nicht mitgezählt. Aber auch wenn Leute verbittert waren, mit jeglichem Recht, schloss ich sie in mein Herz, denn ich weiss nicht, wie ich in einer solchen Situation gehandelt hätte. Ich habe vor allen beschriebenen Charakteren solchen Respekt, dass sie, ihre Taten, ihre Zitate mir schon seit einigen Wochen nur so im Kopf herumschwirren. 

Ich musste meine Gefühle für dieses Buch wirklich zügeln, um eine Rezension zu verfassen. Ich weiss nicht, ob ich jemals schon was gelesen habe, das mir so nahe ging. Ich kann es mir irgendwie auch nicht erklären, weil ich vielleicht schon von härteren Schicksalen gelesen habe. Die Wortwahl hat dazu beigetragen, und, wie ich schon vermehrt erwähnt habe, die Charaktere natürlich auch. Und die Schilderungen vom Zeichnen und Malen, von Bildern und aufs Papier gebrachten Gedanken gab mir den Rest, etwas, mit dem ich mich auch sehr verbunden fühlte, wenn auch bisher immer auf eine völlig andere Art und Weise. 

Beim Zeichnen musste ich  daran denken, dass Schmerz, Liebe und Verzweiflung 
die Glieder einer endlos langen Kette waren. 
Seite 158

Bevor wir zu dem Teil kommen, den ich während dem Lesen geschrieben habe und der wahnsinnig emotional ist, ich aber unbedingt in der Rezension behalten möchte, da es meine Gedanken und Gefühle dadurch natürlich am besten wiedergibt, möchte ich noch auf zwei Dinge zu sprechen kommen, die ich abseits vom Inhalt noch selber loben möchte. Das ist zum einen der Titel, definitiv einer der poetischsten, ehrlichsten, hoffnungsvollsten Titel in meinem Bücherregal. Nach dem Lesen bekommt er auch eine gewisse andere Bedeutung, die man anfangs erahnen konnte, aber vielleicht anders interpretiert hat. Und dann möchte ich noch das Cover ansprechen, denn, ganz ehrlich, auch dieses ist absolut atemberaubend. Schlicht, einfach, und doch steckt ziemlich viel darin. Über die Typographie bin ich mir noch nicht im Klaren, ob mir die jetzt gefällt oder eher nicht so, aber alleine wie sie gesetzt ist, lässt mich meine Gedanken zur Schriftart sofort vergessen. Das Bild, der Rahmen und doch das überwiegende Weiss - und nein, ich bin nicht nach dem Lesen voreingenommen, all das dachte ich schon, bevor ich überhaupt wusste, worum es in dem Buch ging. Zum Glück ist das schon länger vorbei. 


So oft habe ich während dem Lesen das Buch weggelegt, um Nachzudenken, manchmal las ich halbe Seite um halbe Seite, mit minütigen Pausen, in denen ich meine Vorstellungen zum eben gelesenen aufblühen liess. Diese Pausen waren da, um den Platz in mir zu schaffen, den sich das Buch verdient hat, den ich  sofort bereitwillig gegeben hätte, aber dieses Worte brauchen nicht nur Platz, sondern auch Zeit. Mein Kopf musste plötzlich verdauen und mein Bauch sich leeren, damit er das Buch aufsaugen konnte, die Zeilen voller Schmerz und Elend und die wenigen, bei denen das Glück und die Freude durchschimmerte. Aber das Buch hat mich nicht nur dazu gebracht, über sich nachzudenken, sondern über so ziemlich alles. Ich habe viel in Frage gestellt, denn meine Gedanken sind abgeschweift und ich habe mich mit anderen Augen umgesehen. 'Und in mir der unbesiegbare Sommer' hat mir soviel gegeben, soviel geschenkt, dass ich, wenn ich davon hören würde, sofort den Kopf schütteln würde und meinen, dass kein Mensch solche Worte zusammentragen könnte. Und natürlich waren es auch nicht nur die Worte im Buch, sondern diese neue Sichtweise, diese Erkenntnisse, die ich für mich persönlich ausmachte und nicht im Entferntesten etwas mit dem Buch gemeinsam haben. Und doch werden sie für mich immer mit diesem Meisterwerk zusammenhängen, das wirklich mein Leben verändert hat. Vielleicht im Kleinen, aber wenn man später zurückschaut, sind die kleinen Sachen die bedeutenden, oder?

Klirren von Glas und Porzellan hallte in rascher Folge durch  das Haus. Wir liefen in das Esszimmer und stellten fest, dass Mutter  ihr bestes Geschirr au den Fussboden ward. Ihr Gesicht war schweissbedeckt, und ihre goldenen Locken fielen ihr in die Augen. "Mama! Nein!", rief Jonas und lief auf die Scherben zu, die den Boden bedeckten. Ich hielt ihn auf, bevor er das Glas anfassen konnte. "Warum schmeisst du deine schönsten Sachen kaputt, Mama?", fragte ich. 
Sie starrte die Porzellantasse in ihrer Hand an. "Weil ich sie so liebe."
Seite 19

Ruta Sepetys, geboren und aufgewachsen in den USA, hat selbst Vorfahren aus Litauen,  einem Land, das wie Estland und Lettland 1940 für fünfzig Jahre von den Landkarten verschwand. Mit ihrem Buch will die Autorin all jenen Hunderttausenden Balten eine Stimme geben, die während der Schreckensherrschaft Stalins ums Leben kamen. Ruta Sepetys lebt mit ihrer Familie in Tennessee, USA. Und in mir der unbesiegbare Sommer ist ihr erstes Buch.
2 Kommentare
  1. Liebe Mara,

    mal wieder erschaffst du durch eine Rezension eine ganz wunderbare und sehr besondere Atmosphäre, die das Buch auf meine Wunschliste rutschen lässt. Ich habe keinen Schimmer, wie du das nur immer schaffst.

    Ganz viele liebe Grüße, Michelle ☼♥

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    1. Liebste Michelle,

      vielen-vielen Dank, du machst mich ganz verlegen mit deinen Komplimenten. Was ich dir versichern kann, ist, dass die Atmosphäre im Buch noch viel besonderer ist!

      Herzlichst,
      Mara

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