jeden tag ein bisschen mehr | rezension

18 Oktober 2015

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Audrey ist nicht wie andere Mädchen. Sie hat keine grossen Träume, sondern wünscht sich einfach nur ein normales Leben. Als sie mit ihrer Mutter und dem jüngeren Bruder in ein abgelegenes Haus zieht, nimmt sich der Nachbarsjunge Leo der Neuankömmling an. Doch mit Audreys Körper scheint irgendwas nicht zu stimmen. Audrey ist krank, ohne dass die Krankheit einen Namen hat. Ihre Mutter und ihr Bruder wollen ihr Bestes, doch was ist das Beste? Für sie? Für die Familie?

Jeden Tag ein bisschen mehr von Louisa Reid

Genre: Contemporary • Verlag: Fischer • Seiten: 560 Seiten • Fassung: Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag • Original: Lies Like Love, Englisch • Übersetzerin: Birgit Maria Pfaffinger • Preis: 16,99 Euro [D]
"Ich bin dreimal gestorben, bevor ich fünf Jahre alt war."

Ich verbinde vier Adjektive ganz stark mit dem Buch, werde wohl immer an diese Worte denken, wenn ich den Buchrücken von 'Jeden Tag ein bisschen mehr' irgendwo entdecke. Deswegen möchte ich sie jetzt zu Anfang ganz einfach mal in den Raum werfen.

gescheit; mitfühlend; aussergewöhnlich; berührend

Die Geschichte wird aus zwei Sichten erzählt. Einmal haben wir da Audreys Stimme, zerbrechlich und fantasievoll, und einmal haben wir Leos Stimme, sanft und stark.Beide sind unterschiedlich, aber wunderschön zu lesen und eindringlich, wie das ganze Buch. Audrey und Leo haben solch eine reiche, unermüdliche Gedankenwelt und dadurch bringen auch ihre Abschnitte unendliche Gedanken und Meinungen hervor. Was beide noch gemeinsam haben, aber bestimmt aufs Konto der Autorin geht, sind die lebendig erzählten Details und die Kulisse, hauptsächlich die Landschaft, die sich so prächtig vor meinen Augen aufgebaut hat.

Weiden streckten ihre langen, anmutigen Arme aus, 
wiegten vergessene Kinder und flüsterten Geschichten von der Vergangenheit. 

Am meisten fasziniert haben mich aber Audreys Kapitel, die in der Überzahl sind. Ihre innere Stimme und ihre äusseren Beobachtungen verschmelzen, ihre Sprache ist aufrichtig, horchend, vergleichend.  

"Donner und Blitz, der Tag ist geritzt", flüsterte ich. 
So leise, dass niemand es hörte, vor allem nicht meine Haut.

Sie schreibt kurze Sätze, die einzeln sitzen, aber zusammen ein genaues, einfühlsames Stimmungsbild abgeben. Was und wie sie oder Louisa Reid schreibt wirkte nie bemüht. Und machmal, ganz manchmal, kam es mir vor, als würde ein kleines Kind die Worte zusammensuchen. Dass eine Erwachsene die Stimme so ehrlich, so aufgeregt, so erstaunt, so verrückt und neugierig klingen lassen kann, ohne gewollt zu wirken, ist ein solches Talent, dass ich zwanghaft alles von Louisa Reid lesen muss, was mir in die Finger fällt. Vielleicht, vielleicht nur, ist die Sprache auch so naïv und poetisch wie von einem Kind, und das war der Grund, weshalb ich diesen Vergleich ziehe.

"Iss", flüsterte er. "Schnell - es schmeckt nach Sonne." 

Audreys völlig eigene Wahrnehmung von allem und wie genau sie die wiedergibt macht das Buch ganz besonders.
Das Buch (die Geschichte? die Sprache? die Charaktere?) steckt voller Gegensätze. Manche Personen handelten kalt wie Stein, andere waren bei der blossen Nennung des Namen herzerwärmend. Oft war die Stimme leise, aber stellenweise brach es laut, gewaltig, voller Kraft aus den Protagonisten raus. Die eigentliche Schwere und Bitterkeit des Buches war nicht immer präsent, rückte immer wieder in den Hintergrund und geriet manchmal ganz in Vergessen. Und wie in jedem Buch es sollte, sind in 'Jeden Tag ein bisschen mehr' Stellen aller Extreme vorhanden. Grausame, herzzerreissende, manche bittertraurig und dann zum Glück auch die, die pure Glücksgefühle ausstrahlen. Und dennoch darf man nicht glauben, man lässt sich auf ein Buch einer Schwarz-Weiss-Denkenden Autorin ein. Nein, Louisa Reid beherrscht alle Nuancen wie keine andere.

Begriff sie denn nicht dass mein Leben eine spiegelglatte Eisfläche war, 
über die ich unkontrolliert glitt und schlitterte?

Es erinnert mich an das Debüt 'In deinem Licht und Schatten' der Autorin, aber dieses Buch hier empfand ich weit besser. Gebrochene oder zerbrechende Familien scheinen Louisa Reids Gedanken zu besetzen. Und seltsame Krankheiten. Die Recherchearbeit ist gut und sorgfältig gemacht worden, man erkennt sie im Buch aber beim Lesen nicht, wie das halt so sein sollte. Zwei Bücher aus der Feder einer Autorin, beide wahnsinnig packend auf eine andere Weise, was sie von der Masse abhebt.
Das Buch kommt mit wenig Personen aus, aber all die vorhandenen Charaktere und so wunderbar bis ins kleinste Details ausgearbeitet. Und doch wird nicht zu viel von ihnen verraten.Die Figuren lösten in mir das Gefühl aus, als ob Louisa Reid zu Audrey, Peter, Leo und allen anderen noch eine ganze Menge zu erzählen hätte. Zu Anfang waren die Charaktere für mich Fragezeichen, als ich das Buch zuklappte, war es, als verliesse ich meine Freunde.



Ich war an jede Seite gefesselt, bin völlig abgetaucht. Ich wollte die Geschichte, die Geschichten, die selbst in den Mauern der beschriebenen Gebäuden steckten, um keinen Preis loslassen, dass ich nicht begriff, dass ich das gar nicht tun würde. Während dem Lesen war nicht richtig zu greifen. Jetzt ist es zwar vorüber, aber ein Teil von mir. Wie ein Blinzeln. Ich habe alles miterlebt und werde mich noch lange daran erinnern.
Das Buch ist ein ungeschliffener Diamant mit Kanten, wo man sie nicht erwartet. Genau deswegen ist es so ergreifend, und genau deswegen kann ich es so sehr ans Herz legen.   

Louisa Reid ist glückliche Mutter von zwei Töchtern, die sie jeden Tag zum Lachen bringen. Ihre Texte hingegen waren schon immer ungewöhnlich - so ungewöhnlich, dass ihre kleine Schwester manchmal bei der blossen Beschreibung der Textideen zu schluchzen anfing. Für ihr Debüt 'In deinem Licht und Schatten', wurde die Autorin mit Lob überschüttet, und der Text rührte - wie könnte es anders sein - viele Leser zu Tränen. Louisa Reid lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Cambridge.  

Vielen Dank an den Fischer Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplar dieses Buches.
   
4 Kommentare
  1. Wunderschöne Rezension!
    Ich will das Buch auch unbedingt noch lesen, weil einfach jeder davon schwärmt :)
    Deine Rezi allerdings hat mich echt berührt ... WOW!

    Ganz viele liebe Grüße, Michelle ☼♥

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    1. Liebe Michelle,
      vielen vielen Dank, das freut mich sehr!
      Oh ja, das Buch ist wahnsinnig toll und ich bin sicher, es mir dir gefallen.
      Wirklich vielen Dank, so lieb von dir!

      Herzlichst,
      Mara

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  2. Das Buch klingt toll und die Rezension ist auch ganz wunderbar! <3

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    1. Dankedanke liebe Cora, das Buch würde dir sicher sehr gefallen!

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