Bevor ich falle von Lilly Lindner
Genre: Contemporary
Verlag: Droemer
Verlag: Droemer
Seitenanzahl: 300 Seiten
Fassung: Broschierte Ausgabe
Preis: ca. 12,99 Euro [D]
Preis: ca. 12,99 Euro [D]
Ein eindringlicher Roman über Verlust und Verletzung - und über die
Kraft der Worte
Als Cherry neun Jahre alt ist, bringt sich ihre Mutte durch einen Sprung aus dem Fenster um. Und Cherry beschäftigt ein Leben lang die Frage: Hätte die Mutter anders gehandelt, wenn sie an jenem Abend vor dem Sprung die Umarmung der Mutter erwidert hätte? Dies sowie der lieblose Vater hinterlassen bei dem heranwachsenden Mädchen eine tiefe Verletztheit und Gefühlslosigkeit. Nur wenn Cherry sich selber Schmerz zufügt, fühlt sie sich lebendig.
Der Vater weiss mit seiner für ihn anstrengenden Tochter nicht viel anzufangen. Ausgerechnet an Heiligabend wirft er die nunmehr vierzehnjährige Cherry aus dem Haus. Sie findet Unterschlupf und Rückhalt bei ihrem ehemaligen Schwimmlehrer, der ihr erstmals seit dem Tod der Mutter das Gefühl gibt, dass jemand wirklich für sie da ist. Doch erst die Begegnung mit dem exzentrischen Musiker Scratch gibt ihrem Leben die entscheidende Wendung: Sie, die unendlich gewandt ist im Umgang mit Worten, textet Songs für ihn - und findet so ihre eigene Stimme...
Lilly Lindner ist eine Wortmagierin - das wissen viele von uns. Mit diesem Roman beweist sie wiedereinmal, klar, ihre Wortgewalt, aber das, was sie besonders macht, sind die leisen Töne, die das Gesamtorchester so brutal klingen lassen. Wie ein Strauss frischer Blumen gebündelt streckt sie sie uns entgegen, um sich im nächsten Moment in ihrer Protagonistin zu verstecken, trotzige Widerworte hallen lässt und dadurch die Verletztheit nur noch deutlicher preisgibt. So oder so ähnlich würde ich Lilly Lindner beschreieben, nur einer zahlreicher Versuche, ihre klassische Vielseitigkeit zu bündeln und in einer knappen Beschreibung sprechen lassen - aber so etwas ist eben unmöglich. Denn den Strom, diesen Wasserfall, den ihre Worte auslösen, sollte man möglichst einmal selbst miterlebt haben. Und diese Chance kriegen wir alle mit jedem ihrer neuen Bücher.
Natürlich haben alle ein gleiches Schema. Ihre eben erwähnte Vielseitigkeit wird nicht daraus ersichtlich, dass die Protagonistin in ihren Büchern sich mal in einen Punk, dann in einen alten Sack und dann klischeehaft in den Kindergartenfreund verliebt, sondern die Buchstabenzuammensetzung, die so unterschiedlich erfolgt, dass man sie gar nicht auffangen kann. Meistens hat man selten eine ähnliche Situation miterlebt, und kann sich trotzdem unbeschreiblich gut in den Hauptfiguren wiederfinden. Und dass schafft die junge Autorin, ohne in irgendwelcher Weise belehrend oder fürsorglich zu wirken, als wolle sie Leid vermeiden. Natürlich will sie das, und zwar auf eine wunderschöne Art, aber die ist nicht sofort ersichtlich. Was nicht schlimm ist, sondern ihre Bücher eben genau ausmachen. Sie erzählt vom Leiden anderer Menschen, anderer Figuren - starken und schwachen Personen. Aber die Gewandheit mit Worten, die Lilly Lindner ihren ausserordentlich authentischen Charakteren weiterverleiht, kommt nie zu kurz - natürlich nicht! Schattenhaft, eine wabenhafte, fast schon gespenstische Stille kann sie erzeugen, schwarz, dunkelstes Schwarz in einem winzigen Raum versammelt, der alles verschluckt. Und dann fühlt man in unendlichen Situationen so ein Glücksgefühl in sich heraufstreben, wie tausend fröhlich flatternde Schmetterlinge, dass spätestens dann niemand mehr sagen kann, er mag Lilly Lindner nicht.
Zum Buch selber kann ich gar nicht so viel sagen - ich weiss, ich spreche nur von Lilly Lindners Schreibstil, und ich weiss, dass ich nicht mal das besonders gut kann. Aber solange nur ein Fünkchen der Neugierde, der Freude, die ich beim Lesen empfand, auf euch rübersprang und ein kleines bisschen abfärbte, dann bin ich zufrieden. Das Buch ist so bittertraurig, dass es zugleich wunderschön ist. Es ist unglaublich grotesk - aber das in einem wahnsinnig fragilen Sinne. Und ja, ich weiss ebenfalls, dass sich das wieder mehr auf den Schreibstil bezieht. Aber was kann ich dafür, wenn Lilly Lindner mich mal zu mal so sehr verzaubert? Sie lullt mich als Leserin ein, bettet mich in ihre Worte ein, die sanftmütig wie warmes Wasser in Wogen über mich spülen. Irgendsoein nicht in Worte zu fassendes Gefühl habe ich beim Lesen ihrer Bücher. Wirklich.
Ich weiss, als gute Rezensentin sollte ich vielleicht ein bisschen was zu bemängeln haben. Obwohl das auch wieder eine doofe Aussage ist. Aber zumindest sollte ich nicht nur in so ein halbgestörtes Dauerschwärmen fallen, sondern objektiv zusammenfassend etwas zum Buch sagen. Vielleicht kann ich sogar ein bisschen Kritik üben - es war nämlich erstaunlich voraussehbar. Das meine ich aber nicht einmal negativ. Kennt ihr das, jemand, der wahrhaftig gut schreibt, von dem erwartet ihr auch, dass alles andere perfekt ist? Indem hier von einigen gut gepolsterten Klischees Gebrauch gemacht wurde, hat Lilly Lindner aber auf wundervolle Weise gezeigt, dass es gar nicht immer so ist. Dass man ein Buch lieben kann, auch wenn es nicht perfekt ist, nicht ganz glatt und aufpoliert. Sondern eben mal rau und realitätsnah. Und genauso ist auch dieses Buch.
Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn Jahren begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. In Splitterfasernackt verarbeitete sie ihre eigene Geschichte - das Buch stand wochenlang auf der Bestsellerliste und wurde von der Presse einhellig gefeiert: Glasklare und welthaltige Prosa! [FAZ]