Sie hat die Nase voll. Von verstaubten Ansichten und den Erwartungen, dass ihre Zukunft eine ausgeblichene Version des Lebens ihrer Eltern sein soll - nur mit Facebook-Profil und Twitter-Updates auf den neusten Stand gebracht. Also flüchtet die 21-jährige Ann-Sophie Hals über Kopf nach Berlin, 644 Kilometer weit von den Eltern entfernt und um 3,5 Millionen Einwohner grösser als ihr Heimatkaff. Dort hofft sie herauszufinden, was sie vom Leben will. Doch wie macht man das in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten?
Chantal-Fleur Sandjons Buch überzeugt mit einer Thematik, die aus dem Jetzt und dem Leben jeglicher jungen Person, die sich mehr als grundlegende Gedanken über das Sein und die Zukunft, sowie auch die Vergangenheit stellt. Ich kann mir wenige Menschen vorstellen, die sich nicht irgendwie in diesem Roman finden. Und so umhüllt dieses Buch einen als Leserin mit einer Intimität, die in einem Buch selten so vertraut gewirkt hat wie hier. Der Sprachgebrauch ist sorgfältig und passt sich doch der Umgangssprache in Kreuzberg, wo die Geschichte auch spielt, an.
Mir gefällt, wie wenig ausgelassen wird und das genau Bild Berlins. Die Stadt wird sogar im Roman immer wieder kritisiert und, ganz ehrlich, sie polarisiert sowieso. So haben wir verschiedenste Meinungen und persönliche Beziehungen zu meiner Herzensstadt, und doch liest sich das Buch stellenweise wie eine Liebesgeschichte oder Hommage an Berlin, an Kreuzberg. Die verlorenen Geister und jungen Revoluzzer, die Luft, von politischen Aussagen durchsetzt, die Nächte mit Raves ohne Ende, die Strassen mit wahrem Multikulti. Nichts wird ausgelassen und man meint, seit Geburt in Berlin zu leben und doch ruft das Buch zumindest in mir das Bedürfnis auf, Berlin zum sechsten Mal einen Besuch abzustatten.
Wenn Ann-Sophie ihren Mund aufmacht, kommt hin und wieder etwas unverhofft Poetisches heraus. Ich kann mir vorstellen, wie sich auch hier die Geister scheiden und einige Leserinnen, welche kramphaft an ihren selbstgeschriebenen Listen, was in Büchern ein schlechtes Zeichen ist, festhalten, werden zumindest die Dialoge unrealistisch finden. Ich denke mir da - und wenn schon. Man muss sich wirklich auf das Buch und die Geschichte einlassen können (und am besten Lesepausen streichen). Die Autorin schafft nämlich mit so viel anderen Ideen Authentizität vom feinsten und lässt uns an ganz anderen Dingen teilhaben.
Ich will Raum zum Atmen und Flügel-wachsen-Lassen und Anders-sein und Liebemachen und Michfinden.
Und ich will den Horizont küssen und in blauem Licht baden und zu der Musik in meinem Bauch tanzen
und lächerlich sein, ohne dass andere lachen.
Ich will Sachen ausprobieren und Klamotten und Menschen und Essen und politische Meinungen.
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Das Buch hat mich immer wieder überrascht, und zwar in jedem Punkt positiv. Ich habe es schon lange zu Hause stehen und so gut ich mich erinnern mag, hab ich es auch bereits mal angelesen, war damals aber noch zu jung dafür und habe weniges verstanden. Das hat sich mit der Zeit verändert und ich bin froh, das Buch nicht abgestempelt, sondern einfach aufgeschoben zu haben. Es steckt wahnsinnig viel Wahrheit zwischen den Zeilen.
Und viel Chantal-Fleur Sandjon. Genau so stelle ich mir es vor, Schriftstellerin zu sein - dabei gibt es auch das Gegenteil, was ich durchaus attraktiv und für eine hohe Kunst befinde - seine Überzeugungen in warme Worte zu stecken und lauter tolles Zeugs, banal gesagt, drumherumzupacken. Keine Angst, das Buch ist nicht so banal. Es ist wundervoll und nur zu empfehlen. Aber es hat einige Dinge auf den Punkt gebracht.
Für die Menschen, die am Kanal, an unserer kleinen Gruppe Neo-Punks und Schein-Hipstern
vorbeigingen, sah es bestimmt nach einem netten Saufgelage in der Abendsonne aus.
Doch hätte nur einer von ihnen genauer hingesehen, hätte er die Schatten erblickt, die uns umgaben.
Schatten von Eltern, Orten und Erwartungen. Schatten der Vergangenheit und Zukunft.
Manche hier versteckten eingeritzte Oberschenkel und ihren zerrissenen Jeanshosen,
andere Alpträume zwischen ihren Tattoos. Viele sassen auf einem Scherbenhaufen aus Hoffnungen,
die ihnen in Schulen, Unis und Familien kaputt geschlagen worden waren.
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Chantal-Fleur Sandjon hat tolle Themen in ein noch viel besseres Buch gepackt und das ganze mit einem grossartigen Schreibstil garniert. Mir gefiel dieser Roman, der voller Berlin, Erwachsenwerden steckt, ausgesprochen gut. Ich erlebte mir Ann-Sophie Ekstase und Wochen voller Übertreibens und auch das Gegenteil - Enthaltung, zum Beispiel im ökonomischen und politischen Sinne, Kapitalismus wird im Buch nach und nach deutlicher durchgestrichen.
Dieser Roman steckt voller... fantastischer Balance von Worten und Ideen, einer Umsetzung, die viele andere blass erscheinen lässt und viel, viel Grossstadtpoesie.
Script5 / 320 Seiten / Broschiert / Original Deutsch / 14.95 Euro [D]
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